Wir feiern am 7. Mai den ersten Jahrestag des "Kölner Urteils", welches den Auftakt für die Debatte um die Körperliche Unversehrtheit von Kindern bildete.
Das Kölner Urteil
Am 7. Mai 2012 bewertete das Kölner Landgericht eine medizinisch nicht indizierte „Beschneidung“ an einem nicht einwilligungsfähigen Jungen als eine Straftat.
Erstmals stellte somit ein deutsches Gericht klar: auch Jungen haben ein Recht auf körperliche und sexuelle Selbstbestimmung, gegen das eine sogenannte „Beschneidung“ – also die Amputation der Vorhaut, die durchschnittlich 50 % der gesamten Penishaut ausmacht – klar verstößt.
Somit waren Kinder unabhängig von Geschlecht, Herkunft und Religion vor jeglicher Form genitaler Verstümmelungen geschützt. Ihr Recht auf körperliche Unversehrtheit galt ausnahmslos.
Kindern steht gesetzlich in Deutschland das Recht auf eine gewaltfreie Erziehung zu – warum sollte dieses Recht vor ihren Genitalien haltmachen?
Der Bundestag hat am 12. Dezember 2012 anders entschieden: „Beschneidungen“ an Jungen wurden aus jeglichem Grunde für legal erklärt. Sie sind seitdem Teil der sogenannten Personensorge - Körperverletzungen als Teil der Erziehung!?
Im Gegensatz zu Vorhautamputation an Jungen sind alle Formen weiblicher Genitalverstümmelung weiterhin verboten: die Arten, die Vorhautamputationen an Eingriffstiefe und Folgen deutlich übersteigen, sowie auch die Formen, die nach medizinisch objektiven Kriterien bewertet vergleichbar sind (d.h. mit ähnlich viel bzw. sogar gar keinem Gewebeverlust auskommen).
Dennoch gehen Organisationen von bis zu 50 000 in Deutschland lebenden Mädchen aus, die von Genitalverstümmelung bedroht sind. Bis heute ist kein erfolgter Fall angezeigt worden. Die Schweigepflicht der Ärzte ist nicht aufgehoben.
Zudem wird es auf Dauer juristisch und moralisch nicht haltbar sein, die in ihrem Umfang vergleichbaren Formen weiblicher Genitalverstümmelung als Straftat, die männliche Genitalverstümmelung hingegen als bewahrenswertes und identitätsstiftendes Kulturgut zu bewerten.
Weltweit sind Mädchen und Jungen von der Verletzung ihrer sexuellen Selbstbestimmung bedroht. Nie sind es die Kinder selbst, die um die operative „Korrektur“ ihrer Geschlechts rgane bitten – immer sind es Erwachsene, die ihre Kinder diesen zum Teil unter qualvollen Bedingungen stattfindenden Eingriffen aussetzen.
Es geht nicht darum, Eltern zu kriminalisieren – niemand spricht ihnen ab, ihre Kinder zu lieben.
Es geht nicht darum, Religion und Tradition als solche zu bekämpfen – sondern darum, dass diese sich modernen medizinischen und ethischen Erkenntnissen nicht verschließen dürfen.
Es geht um Aufklärung über die Folgen von Genitalverstümmelungen und somit um das Ziel, die Kreisläufe von Gewalterfahrungen und deren Weitergabe zu unterbrechen.
Menschenrechte sind unteilbar und dürfen niemals relativiert werden!
Seit dem Beschluss des Deutschen Bundestages von § 1631d am 12.12. 2012 ist das Recht auf körperliche Unversehrtheit in Deutschland eine Frage des Geschlechtes:
Jungen sind im Gegensatz zu Mädchen nicht gegen nicht-therapeutische Eingriffe an ihren Geschlechtsorganen geschützt.
Das Gesetz sieht weder eine Betäubung zwingend vor, noch geht das Gesetz auf verschiedenen Eingriffstiefen bei diesen Operationen ein.
Bei Jungen unter sechs Monaten darf auch ein Nichtmediziner Vorhautamputationen vornehmen – grundsätzlich reicht dem Gesetzgeber die bloße Absicht der Eltern, die „Beschneidung“ nach den Regeln der ärztlichen Kunst vornehmen zu lassen.
Der Gesetzestext ist unklar formuliert. Dies macht es den Betroffenen später schwer bis unmöglich, den Klageweg zu beschreiten.
Aus Anlass des ersten Jahrestages des "Kölner Urteils" fordern wir:
Christian Bahls, 1. Vorsitzender MOGiS e.V. – eine Stimme für Betroffene:
Es wird deutlich, dass die Debatte um die nicht-therapeutische Vorhautamputation (auch Beschneidung genannt) mit dem Gesetz vom Dezember des letzten Jahres nicht zu Ruhe kommt. Die Mehrheit der Bevölkerung lehnt es ab, den betroffenen Kindern die Entscheidunghoheit über ein vollständiges Geschlechtsorgan abzuerkennen. Wegen der Tragweite steht eine Entscheidung über nicht-therapeutische chirurgische Eingriffe an Genitalien nur denjenigen zu, die mit den Folgen leben müssen.
Irmingard Schewe-Gerigk, Vorsitzende TERRE DES FEMMES:
TERRE DES FEMMES geht es als Menschenrechtsorganisation grundsätzlich um die körperliche Unversehrtheit von Kindern als Menschenrecht, das für alle Kinder gleichermaßen gilt, egal welcher Herkunft, Religion und welchen Geschlechts sie sind. Irreversible Eingriffe in die Unversehrtheit von Kindern – mit Ausnahme medizinisch notwendiger Behandlungen – dürfen weder mit Religion noch Tradition gerechtfertigt werden. Menschenrechte sind nicht teilbar – auch nicht zwischen Mädchen und Jungen.
Sammlung von Beiträgen von TERRE DES FEMMES zu "Beschneidung" von Jungen
Dr. Wolfram Hartmann, Präsident des Berufsverbandes der Kinder- und Jugendärzte:
Über die Konsequenzen der kompletten Entfernung der Vorhaut kann ein noch nicht sexuell aktives Kind nicht korrekt aufgeklärt und um seine Einwilligung gebeten werden. Auch Eltern können hier ihre Einwilligung nicht stellvertretend für das Kind geben, da der Eingriff medizinisch nicht notwendig ist und die Eltern überhaupt nicht beurteilen können, welche Ansprüche an die Intaktheit seiner Körperoberfläche und seine sexuelle Erfüllung der Junge später hat oder nicht. Eigene Erfahrungen können hier kein Maßstab sein.
Europäische Pädiater kritisieren AAP-Studie zur Beschneidung
Önder Özgeday, Mitglied im Facharbeitskreis Beschneidungsbetroffener im MOGiS e.V.:
Dieser Tag soll allen Menschen weltweit eine Stimme geben, die an den Folgen von Genitalverstümmelungen leiden und darüber nicht sprechen können oder es nicht wagen, zu sprechen. Erwachsenenhände haben an Genitalien von Kindern zur Zufriedenstellung eigener Bedürfnisse nichts zu suchen: nichts, niemals und egal aus welchem Grund.
Alexander Bachl, Sprecher des Facharbeitskreises Beschneidungsbetroffener im MOGiS e.V:
Zur Vermeidung eines Kulturkampfes akzeptierte der Gesetzgeber mit dem Zwangsbeschneidungserlaubnisgesetz als Kollateralschaden das Leid von hilflosen Kindern verursacht durch die Willkür der Eltern. Dieses Verhalten und die ständig wiederholte Relativierung der Schädlichkeit von Vorhautamputationen sind ein weiterer Tiefschlag für mich und alle anderen negativ Betroffenen.
Stellungnahme von pro familia Nordrhein Westfalen